Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen in Deutschland hat im Jahr 2023 einen neuen Höchststand erreicht. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) am Freitag mitteilte, stellten die Jugendämter bei mindestens 63.700 Kindern oder Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt fest.
Das waren rund 1.400 Fälle oder zwei Prozent mehr als im Jahr zuvor.
Da einige Jugendämter für das Jahr 2023 keine Daten melden konnten, ist aber sicher, dass der tatsächliche Anstieg noch deutlich höher ausfiel: Werden für die fehlenden Meldungen im Jahr 2023 die Ergebnisse aus dem Vorjahr hinzugeschätzt (+3.300 Fälle), liegt der Anstieg der Kindeswohlgefährdungen gegenüber dem Vorjahr bei 4.700 Fällen oder 7,6 Prozent.
Wird zusätzlich der allgemeine Anstieg berücksichtigt, erhöht sich das Plus sogar auf rund 5.000 Fälle beziehungsweise 8,0 Prozent. Nach dieser Schätzung läge die Gesamtzahl im Jahr 2023 bei 67.300 Fällen. Neben Fehlern bei der Datenerfassung und dem Cyberangriff auf einen IT-Dienstleister wurde als Grund für die fehlenden Meldungen im Jahr 2023 auch die Überlastung des Personals im Jugendamt genannt.
Der langfristige Anstieg der Zahl behördlich festgestellter Kindeswohlgefährdungen setzte sich damit auch 2023 fort. Mit Ausnahme des Jahres 2017 und des Corona-Jahres 2021 nahmen die Fallzahlen seit Einführung der Statistik im Jahr 2012 stets zu.
Am höchsten waren die Anstiege von 2018 bis 2020 mit jeweils neun Prozent bis zehn Prozent mehr Fällen als im Vorjahr. Gründe für diese Entwicklung können – neben einer tatsächlichen Zunahme der Gefährdungsfälle – auch eine höhere Sensibilität und Anzeigebereitschaft der Öffentlichkeit und Behörden beim Thema Kinderschutz sein.
Den rund 63.700 Meldungen zufolge waren die betroffenen Kinder im Jahr 2023 bei Feststellung der Kindeswohlgefährdung im Schnitt 8,2 Jahre alt. Während bis zum Alter von zwölf Jahren Jungen etwas häufiger von einer Kindeswohlgefährdung betroffen waren, galt dies ab dem 13. Lebensjahr für Mädchen. Die meisten betroffenen Minderjährigen wuchsen bei alleinerziehenden Elternteilen (39 Prozent) oder beiden Eltern gemeinsam (38 Prozent) auf.
13 Prozent lebten bei einem Elternteil in neuer Partnerschaft und zehn Prozent in einem Heim, bei Verwandten oder in einer anderen Konstellation. In knapp jedem dritten Fall (31 Prozent) waren ein oder beide Elternteile ausländischer Herkunft (nicht in Deutschland geboren) und die vorrangig gesprochene Familiensprache nicht deutsch. In 45 Prozent aller Fälle nahmen die Jungen oder Mädchen zum Zeitpunkt der Gefährdungseinschätzung bereits eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch, standen also schon in Kontakt zum Hilfesystem. Dabei war in etwa jedem vierten Fall (27 Prozent) innerhalb des Jahres schon einmal eine Meldung zu dem Kind eingegangen.
In den meisten Fällen von Kindeswohlgefährdung hatten die Behörden Anzeichen von Vernachlässigung festgestellt (58 Prozent).
Bei 36 Prozent gab es Hinweise auf psychische Misshandlungen. In 27 Prozent der Fälle wurden Indizien für körperliche Misshandlungen und in sechs Prozent für sexuelle Gewalt gefunden. Den Jugendämtern zufolge hatte ein Teil der Kinder mehrere dieser Gefährdungsarten – also Vernachlässigungen, psychische Misshandlungen, körperliche Misshandlungen oder sexuelle Gewalt – gleichzeitig erlebt: 2023 traf das auf knapp jeden vierten Fall von Kindeswohlgefährdung zu (23 Prozent).
Neue Ergebnisse zeigen nun auch, von wem die Gefährdung des Kindes – ausschließlich oder hauptsächlich – ausging: In 73 Prozent aller Fälle war das die eigene Mutter oder der eigene Vater. In weiteren vier Prozent war es ein Stiefelternteil oder der neue Partner eines Elternteils und in sechs Prozent eine sonstige Person, etwa eine Tante, ein Trainer, der Pflegevater oder die Erzieherin.
In ebenfalls sechs Prozent der Fälle konnte zwar angegeben werden, dass die Gefährdung von mehreren Personen ausging, aber keine Hauptperson benannt werden. Und in elf Prozent der Fälle waren weder die Zahl der Beteiligten noch die (Haupt-)Person bekannt.
Den vorliegenden Daten zufolge haben die Jugendämter im Jahr 2023 insgesamt rund 211.700 Hinweismeldungen durch eine Gefährdungseinschätzung geprüft – auch hier liegt die tatsächliche Zahl wegen der Datenausfälle noch höher. Die meisten Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung wurden von Polizei und Justiz an die Jugendämter weitergegeben (31 Prozent). Etwas seltener kamen die Hinweise aus der Bevölkerung – also von Verwandten, Bekannten, aus der Nachbarschaft oder anonym (22 Prozent).
An dritter Stelle folgten Hinweise aus der Kinder- und Jugend- oder Erziehungshilfe (13 Prozent) und dahinter Hinweise aus den Schulen an die Jugendämter (zwölf Prozent). Etwa ein weiteres Zehntel der Hinweise auf die Gefährdungssituation stammte aus den Familien selbst, also von den betroffenen Minderjährigen (zwei Prozent) oder ihren Eltern (sieben Prozent). In 30 Prozent aller Hinweismeldungen haben die Jugendämter den Verdacht auf Kindeswohlgefährdung anschließend bestätigt. Die zuverlässigsten Hinweisgeber waren dabei die Betroffenen selbst: Bei den Selbstmeldungen von Kindern und Jugendlichen war die Bestätigungsquote am höchsten und lag mit 60 Prozent doppelt so hoch wie der Durchschnitt, so die Behörde. (dts Nachrichtenagentur)